Sonntag, 30. Juli 2006

Heute wird gestorben

Die Welt sind immer Netze. Das der Bürger, meint man, besteht aus Grillfesten, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Patenschaften und Events. Manchmal sieht man die Wahrheit, zum Beispiel wenn gestorben wird.

Ich wohne eingebaut in Einfamilienhäuser im Anbau eines solchen, als Fremdkörper in mitten einer bekannten aber sehr fernen Welt. Um mich herum findet Leben statt, an dem ich nicht einmal als Gast beteiligt sein möchte. Gleichwohl wohne ich hier. Ganz bewusst, denn ich komme genau aus solchen Verhältnissen und die Enge der Anderen, gibt mir eine gewisse soziale Kontrolle. Natürlich wäre mir die dreiundzwanzigjährige brasilianische Nutte, die mit dem Kokshändler zum Manne, als Nachbarin auch recht. Aber eben, dann sähe mein Umfeld aus wie mein Inneres und ich hätte gar keine Abwechslung mehr.

Jetzt wird gestorben.

In dem Haus schräg gegenüber. Ich bemerke es seit Wochen, der alte Mann, der letztes Jahr noch allnachmittäglich im Wintergarten sass, fehlt den ganzen Sommer schon. Die Stühle sind nun an den Tisch geklappt oder besetzt von Gästen, die weit häufiger als sonst auftauchen. Das macht den Unterschied aus. Seit der alte Mann nicht mehr zu sehen ist, gibt es viele Gäste. Die grauhaarigen, die länger bleiben könnten Söhne sein, die jüngeren Enkel. Die gehen nach einem Nachmittag wieder. Weinend, es muss kein guter Anblick sein. Das zu diesem einsamen Haus plötzlich so viele kommen, lässt wirklich an Erbschleicherei denken. Ich weiss, dass ist eine Frechheit. Ich bin Schwein wie wir alle, nur eines das sprechen kann.

Keiner kann JETZT sterben

Das geht seit Wochen. Und plötzlich ist das Netz zwischen den Menschen hinter den Hecken zu sehen. Man besucht sich gegenseitig, bringt einen Kuchen in die Nachbarburg, ja feiert sogar leise nachts das Wiedersehen in der Fremde verschwundener Söhne dieses Hauses, die nun alle wieder eintrudeln, um die Hand ihres Vater zu halten. Plötzlich ist vor meinem Fenster zu sehen, wie eng die Bande zwischen den Menschen mit ihren Grenzen sein können.

Sterben ist anstrengend.

Besonders für die, die Überleben. Die jüngere Ehefrau des Sterbenden, die ich ein Jahr lang, wenn überhaupt, dann in ihrem Wagen auf dem Weg vor mir sah, geht nun sehr oft an mir vorbei in die Nachbarhäuser. Leicht bekleidet, denn es ist warm. Sterbezimmern flieht man. Ich bin oft und gern in ihnen gewesen. Der Tod hat eine Aura. Wenn meine Mutter nicht so gern mit Notdiensten telefoniert hätte, dann hätte ich auch meinen eigenen Vater hinüber begleiten können. So pflegte ich ihn nur und sah in immer wieder kurz davor. Hier scheint es eindeutiger zu sein. Vor meinen Augen sehe ich die Prozession an ein Sterbebett und finde das beeindruckend.

Sterben gehört zum Leben

Vielleicht deshalb küsst die Frau den Mann der mit ihr im Wintergarten Wache hält. Diese Bürger! Faustdick haben die es hinter den Ohren! So wie ich. Nur bin ich halt kein Bürger in ihrem Sinn. Ich weiss, dass ich die Treppe in den Himmel bin, nach deren letzter Stufe nur ein Abgrund kommt. Ein schwarzes Loch. Die gibt es eben auch am Himmel.

Sterben macht Angst

Mit glasigen Augen stehen Fremde vor meinen Fenstern und erzählen den Nachbarn, die auf sie warten, was sie gerade sahen. Alle scheinen sich zu kennen. Ich höre: Coma, Dialyse, Elend. Es ist fremdes Leid. Es ist fernes Leid. Und doch schreibe ich darüber.

Sterben ist ein Band zwischen Welten.

Gewoben aus feinsten Fasern des Nichts. Wie eines dieser Blockflötenstücke, die ich gerade höre. Gewoben aus nichts was Welt wäre. Ich habe keine Angst vor dem sterben, bin aber auch wegen solcher Musik froh am Leben zu sein.

Beflügelt duch verschlungenste Melodiebögen und Kreise sehe ich die bald Trauernden im Wintergarten fläzen. Oben im Sterbezimmer ist ein Fenster offen. Am Fusse seines Schwarz sehe ich etwas helles im Zimmer spiegeln. Der Tod zeigt sich. Er geht vorbei an mir, wie schon so oft.

Wie oft noch?

1 Kommentar:

  1. danke. im freundlichsten gesicht, den wärmsten augen oder einem leichten text können abgründe blinken. mein ideal.

    aber einer von uns nimmt die falschen drogen. du hast doch einen blog und mich verlink, wie ich sehe. oder begreife ich was nicht.
    danke
    g.

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