Montag, 15. Mai 2006

Sterben lernen und Sterben sind zweierlei

Wohin der Weg führt weiss ich nicht, vielleicht nur, wovon weg, doch scheint er lang zu sein. Deshalb versuche ich seit zwanzig Jahren und das entgegen meinem Naturell und den körperlichen Voraussetzungen, mich durch Joggen fit zu halten. Es ist mehr eine mentale Übung als Sport. Eines der vielen da denkbaren Vergnügen ist es, an einem Freitagnachmittag, seine ganz eigene Rushhour zu gestalten und zum Beispiel einen ausgedehnten Lauf durch Bern zu unternehmen. Für den Abend war ein Essen vorgesehen, doppelt Grund also, noch ein wenig Kraft zu verbrauchen. Ausserdem konnte ich den zu erwartenden Adrenalinflush gut gebrauchen. Mühsam, da es nicht der erste Lauf der Woche, aber auch keiner in einer Trainingsphase war, ging es die erste dreiviertel Stunde immer der Aaare na, der schönen grünen Aare na… Doch langsam wurden die Schritte länger, der ganze Körper lief, tanzte und sprang trotz Schmerzen zur guten Musik aus den weissen Stöpseln. Das Adrenalin war gekommen und die Momente des rennenden Fliegen begannen. Es ging durch die Matte und ich beobachtete das lebendige Treiben in ihren Lauben und Strassen an einem Freitagabend. An der Sprachheilschule standen Eltern und Kinder draussen und feierten wohl ein kleines Schulfest. Ich sah genau hin, denn auch dort hatte Conny sich beworben. Plötzlich sah ich die weit aufgerissenen Augen einer Frau, die mit offenem Mund mitten aus einem Gespräch heraus mit ausgestrecktem Arm auf die Kirchenfeldbrücke wies. Automatisch folgte ich ihrem zeigenden Finger wie alle anderen auch, ihren Schrei hörte ich nicht, sondern

Oh, a storm is threat'ning
My very life today
If I don't get some shelter
Oh yeah, I'm gonna fade away

An oder unter der Brücke konnte ich nichts erkennen, in der Matte, an den Ufern der Aare, vor dem Schwällemätteli schien der Betrieb normal zu laufen, etwas langsamer als zweihundert Meter weiter oben auf der Kirchenfeldbrücke, wo sich Strassenbahnen drängten und Passanten liefen. Über dem Sportplatz standen einige und sahen nach unten, aber das ist normal an dieser Stelle, auch ich habe dort schon den kleinen Sturz der Aare und die Matte bestaunt. Am beeindruckensten ist die Brücke am ersten August Abends gefüllt, wenn sich dort oben Tausende das Feuerwerk um die Ohren fliegen lassen. Das Leben und ich liefen normal weiter, ich sah noch mal nach der Frau, die abseits der Kindergruppe einigen Erwachsenen aufgeregt etwas beschrieb. Immer wieder zeigte ihr Arm zur Brücke unter der ich nun hindurch lief. Einmal hatte ich mit vielen anderen und der Frau, die später meine Ehefrau wurde und es nun bald nicht mehr ist, unter ihr auf dem Sportplatz gelegen und bei live gespieltem Jazz einer Akrobatentruppe zugeschaut, die in den Bögen an Seilen und Trapezen hängend eine Art Theater spielten. Die Handlung erschloss sich mir nicht, aber atemberaubend war, wie Menschen auf dem Kopf stehend, die Bögen abliefen und unter ihnen pendelten. Eine atemberaubende Vorstellung. Kurz bevor ich die Aaare querte überholte mich ein rasender Krankenwagen, dessen Sirene stärker als mein I-podchen war. Sie fuhren in Richtung Schwällemätteli und bogen dort ein. Vielleicht war jemand nach dem achten Whiskey in die Aare gefallen oder hatte sich auf dem Weg zum Bärengraben den Fuss gebrochen. Nun auf der anderen Seite des Wassers näherte ich mich dem Sportplatz, mehr als das übliche Gerangel und Zirkulieren um die wenigen Parkplätze war nicht zu beobachten. Dann sah ich den Krankenwagen auf dem Sportplatz stehen. Wahrscheinlich war also ein Sportler, vielleicht ja ein Jogger verunglückt. Ich hörte statt den Stones nun auf mein Herz. Drohte auch mir der Sekundentod? In Höhe der Sanitäter angekommen, sah ich den jungen Mann um den sie sich bemühten, beziehungsweise wie sie gerade wieder ihre Geräte verpackten. Nicht gut, eine Minute nach Ankunft. Er lag in Strassenkleidung auf dem Rücken recht normal auf der Bahn, nur sein Kopf war stark von dunklem Blut verschmiert. Das sah ich in der Sekunde bevor Polizisten die Plane über ihn deckten und blieb stehen. Es dauerte einen Moment bis ich begriff. Mein Blick ging nach oben, dann über die Aare, wo die Frau immer noch gestikulierte und dann wieder nach oben. Ich nahm die Stöpsel aus den Ohren und ging langsam weiter. Es dauerte eine Weile, bis sich das Entsetzen gegen das kreisende Adrenalin in mir durchgesetzt hatte. So muss es im Krieg sein, wenn du um dein Leben rennst und im Augenwinkel siehst, wie ein Kamerad, nicht du, nein ein anderer tot liegen bleibt. Du musst einfach weiter rennen! Schrie mich das Leben an, aber es ging nicht.
Da war also einer, mitten im blühenden Mai aus dem Freitagnachmittagtrubel und aus dem Leben gesprungen. Es ist schwer wenn man im Frühling stirbt, heisst es in einem Lied. Langsam ging ich weiter und versuchte was zu denken, doch das geht nicht mit Adrenalin und einem Schock. Ich horchte in mich, was in einer solchen Situation aufstieg. Es waren nur zwei Worte: Du Arschloch! Nicht sehr originell, aber mehr war nicht. Und es blühte eine kleine Freude, ganz unten in mir. Lebensfreude. Auch dieses beschissene, lächerliche Joggen ist Teil der Arbeit gegen das Bedürfnis ab und an von einer Brücke zu springen. Und ich dachte an die, der ich seit anderthalb Jahren mit immer noch wachsender Freude zuhöre und die immer wenn es nötig ist, das richtige Ohr für mich hat. Dem Selbstmörder hatte wohl niemand zugehört. Ich stellte mir jemanden vor, der von seinem Computerarbeitsplatz kommend, einem weiteren leeren Wochenende entgegensah und die Löschtaste gedrückt hatte. So einfach wird es wohl nicht gewesen sein, doch dann kamen mir aufgeregte Menschen entgegen, die oben auf der Brücke gewesen waren und nun zum Landeplatz eilten. Ein Mann weinte. Ich hörte ihn immer wieder sagen: Der ist vor mir gelaufen und dann ganz plötzlich einfach über das Geländer gesprungen. Das Entsprach meinem Bild vom Kurzschluss. Und für den gibt es nur das Wort Arschloch. Der Suizidale hatte noch nicht gewusst, dass man nicht springen muss.
Ich steckte mir die Musik wieder in die Ohren und rannte langsam weiter. „Satisfaction“ war dran. Lieber albern leben als gar nicht. Schon im Getümmel am Bärengraben war nichts mehr von dem Drama zu spüren, was gerade stattgefunden hatte. Für irgendwen würde es erst beginnen. Für die, die in ein paar Stunden Besuch von zwei Polizisten mit der Todesnachricht bekommen würden.

Das Essen war grossartig und ich versaute meinen Kollegen und Freunden diese kleine Feier des Lebens nicht mit einem Bericht meines Erlebnisses. Berner denen ich später davon erzählte, winkten nur ab und brachten haufenweise Gruselgeschichten von Menschen hervor, die von Berner Brücken auf andere Menschen, Kinderwägen, Hunde und Autos gefallen sein sollten. Ich glaube das mal alles nicht. Weil, ich lebe ja.

5 Kommentare:

  1. Anonym5:12 AM

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  2. Danke. Nur warum schreibst du in Englisch, wenn du das Deutsche doch lesen können musst? Und wo ist das versprochene Bild? Nun denken die Leser, ich kommentiere mich selbst. Na ist ja auch fast so. Zum Glück bin ich der einzige Leser. Also ich denke jetzt, ich kommentiere mich selbst, wo ich doch gar nicht... SCHWESTER !!! Ich brauche meine Medizin! Danke, liebe Conny.
    Gemeinsam stehen wir gegen die Front der niedersächsischen BeamtenüberdasLand Verteilungsbeamten.

    SCHNEIDEN WIR IHNEN ZUERST IHRE BEKLOPPTEN ZUSTÄNDIGKEITEN UND DANN IHRE EIER AB! DIE BRAUCHEN SIE NICHT, DIE RASENMÄHERDOMPTEURE!

    FLUTEN WIR NIEDERSACHSEN!

    RETTE DICH AUF DIE SCHWEIZER BERGE!

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  3. Anonym10:39 PM

    Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  5. oh gott bin ich blöd.

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